klassische Sinfonie und Streichquartett

klassische Sinfonie und Streichquartett
klassische Sinfonie und Streichquartett
 
Mit der Erneuerung der Satzprinzipien in der Vorklassik, deren Radikalität in der Musikgeschichte tatsächlich einzigartig ist, ohne dass dafür ein Name gefunden worden wäre wie für die Neuerungen um 1600 oder 1910, geht der Wandel der musikalischen Gattungen einher. Die uns heute geläufigsten Instrumentalgattungen sind Errungenschaften der Mitte der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts: die neue Sinfonie und das neue kammermusikalische Streichquartett, das neue Konzert (Klavierkonzert) und die neue Sonate (Klaviersonate). Ihre Etablierung und Normierung ist ebenso wie die Festigung der Formen vor allem das Werk Haydns und Mozarts gewesen.
 
Als Vater von Sinfonie und Streichquartett gilt zu Recht Joseph Haydn. Vor allem das Streichquartett ist gleichsam seine »Erfindung«. Die Anekdoten darum sind Ausdruck der Hilflosigkeit und verdecken eher die epochale Leistung, die in der Beharrlichkeit besteht, mit der Haydn an einer ursprünglich wohl zufälligen Besetzung ein Leben lang festhielt. Die Besetzung ist ihm offenbar ideal erschienen; zumindest hat er auf Anhieb Werke geschaffen, die seiner Tendenz zur fein differenzierten Einheitlichkeit entsprachen: klangliche Homogenität der Instrumentenfamilie, Vielseitigkeit und spielerische Beweglichkeit der Streicher, kompositorische Anforderung, ja Herausforderung durch die solistische Besetzung und die »vollkommene«, vom Vokalchor abgeleitete Vierstimmigkeit - dies sind die Kennzeichen einer Gattung, die seither und bis heute Inbegriff kompositorischer Kunst ist.
 
Bis in die 1770er-Jahre experimentierte Haydn mit Besetzung und Form; mit den sechs Streichquartetten opus 33 (1781) erreichte er dann jenes Stadium, bei dem die Musikgeschichtsschreibung den Beginn der Wiener Klassik festmacht: »Aufhebung« aller bis dahin gesuchten Lösungen in einer vollendeten Satzanlage, deren Schlichtheit, Homogenität, Verständlichkeit und Klarheit zugleich ein bis dahin unerreichtes Maß innerer Subtilität und hintergründiger Raffinesse erreicht. Äußeres Moment dessen ist der erstmalige Ersatz des (von Haydn eingeführten) Menuetts durch das (ebenfalls von Haydn eingeführte) Scherzo, das Beethoven später übernehmen sollte. Es ist Ausdruck des »klassischen« Spiels (italienisch »Scherzo« = Spaß, Spiel), des geistvoll-witzigen Vorführens der eigenen kompositorischen Mittel und Kunst.
 
Auf Mozart haben diese Werke nachhaltigen Einfluss gehabt. Das zeigen die eigenen sechs Streichquartette aus den ersten Wiener Jahren, die er Haydn, dem verehrten Lehrer und Vorbild, gewidmet hat. Die Werke, darunter das berühmte »Dissonanzenquartett«, an dessen kühner Einleitung man im 19. Jahrhundert glaubte Fehler korrigieren zu müssen, zeugen aber zugleich auch von der kompositorischen Unterschiedlichkeit beider Komponisten. Mozarts Quartette sind der Versuch, einen spielerisch-ernsten, filigran-durchdachten, konstruktiv-beherrschten Satz zu schreiben und damit weit abzurücken von der eigenen Kompositionsweise, die bei weitem spontaner und individueller wirkt, scheinbar Unvermitteltes nebeneinander stellt und, gleichsam auf »unerklärliche« Weise, doch Zusammenhang unter permanent neuen Einfällen schafft. Mozarts Haydn-Quartette sind Meisterwerke der Selbstbeherrschung und zeigen die für Mozart typische Fähigkeit der Übernahme und Verwandlung anderer Idiome im eigenen Sinne. Ihr Standard sowie der der späteren Streichquartette Haydns machte sie zum Vorbild aller Nachfahren.
 
Auch Beethovens sechs Quartette opus 18 (1800) knüpfen hier noch an. Wie weit sich jedoch die späteren von diesen durch und durch »klassischen« Werken entfernen, zeigen die letzten Quartette ab opus 127 (1824), die mit allem bisher Gehörten brechen, Bruch und Auseinandersetzung mit der Quartettgeschichte jedoch kompositorisch thematisieren und es zu einer geradezu existenziell-bedrohlichen Intensität bringen.
 
Wenn die Sinfonie auch nicht eine »Erfindung« Haydns genannt werden kann, so hat sie doch durch ihn jene normative Gestalt gefunden, die der Etablierung einer neuen Gattung gleichkommt. Von der dreisätzigen italienischen Operneinleitung (»Sinfonia«) herkommend, traf wiederum Haydn die Entscheidung für eine von mehreren bereits erprobten Lösungen: die viersätzige Sinfonie mit schnellem Anfangs- oder Kopfsatz und (noch schnellerem) Schluss- beziehungsweise Finalsatz, und dem langsamen Satz sowie dem Menuett als weiterem Mittelsatz. Dieser Typus wurde seither zur Norm, allerdings nicht aufgrund irgendeines generellen Prinzips; denn Dreisätzigkeit wäre ebenso denkbar gewesen, wie man an der nach wie vor dreisätzigen Konzertform sieht. Dass sich die Viersätzigkeit der deutschen (Kammer-)Sinfonie, auch als Unterscheidung von der italienischen Opernsinfonia, durchgesetzt hat, ist das Werk Haydns, der daran seit Mitte der 1760er-Jahre bis zu seiner letzten Sinfonie konsequent festhielt und Werke schuf, deren überzeugende Qualität den Zeitgenossen und der Nachwelt zum Vorbild wurde. Mozart komponierte Sinfonien noch bis Ende der 1770er-Jahren dreisätzig, später, mit Ausnahme der »Prager Sinfonie« (1786) nur noch wie Haydn viersätzig.
 
Es gibt wohl keine Instrumentalgattung, die eine derart weit reichende historische Bedeutung gewonnen hat wie die Sinfonie. E. T. A. Hoffmann nennt sie 1810, und zwar vor allem im Blick auf Haydn und Mozart, die »Oper der Instrumente«. Das bezeichnet schlagwortartig die gewandelte Auffassung. Die Entwicklung der Kompositionsgeschichte, die von vokaler Bestimmung ausging und - zumindest in der weltlichen Musik - seit nahezu 150 Jahren der Oper die führende, repräsentative Rolle zubilligte, hin zu einer zunehmenden Emanzipation der Instrumentalmusik, hat vor allem durch die historischen Leistungen Haydns und Mozarts zur »klassischen« Aufhebung der Unterschiede und schon im frühen 19. Jahrhundert, vor allem durch Beethoven, zur Umkehrung der Maßstäbe geführt. Was dem 18. Jahrhundert vornehmlich die Oper war, wird dem 19. Jahrhundert nun die Sinfonie. So sieht sich selbst Richard Wagner noch um 1850 gezwungen, sein musikdramatisches Konzept aus der Sinfonie abzuleiten, um so den Anspruch auf das Höchste in der Musik zu bewahren. Für E. T. A. Hoffmann gilt die Sinfonie schon vor Beethovens Wirkung als »der höchste und glänzendste Gipfel der neuern Instrumentalmusik«, die »ihre Macht auch über die anderen Gattungen« beweise.
 
In der Sinfonie als der größtbesetzten und umfangreichsten Instrumentalgattung versammeln sich die Einzelnen in der Individualität ihres (instrumentalen) Ausdrucks zur (»klassischen«) Einheit des Ganzen. Mit Beethoven bekommt die Sinfonie jedoch geradezu ruckartig eine neue Dimension. Er schreibt nicht mehr 50 (wie Mozart) oder über 100 (wie Haydn), sondern nur noch neun Sinfonien. Jede ist in ganz neuem Sinne ein Individuum. Das Universale der Sinfonie bei Haydn und Mozart geht auf in der Universalität der sinfonisch gestalteten und gelösten Probleme. Beethovens Sinfonien werden »Ideen-Sinfonien«. Ob sie Titel tragen, wie die »Eroica« und die »Pastorale«, oder nicht, stets erscheinen sie als Lösungen, als Gestaltungen einer nach Beethovens eigenen Worten »zugrunde liegenden Idee«: bei der Dritten das Heroische, bei der Fünften vielleicht die Idee der Freiheit (»Vom Dunkel zum Licht«), bei der Sechsten das Bild von der Natur, bei der Siebten die Apotheose des Tanzes. Beethovens Sinfonien fordern durch die besondere Individualität ihrer Anlage, durch ihre Deutlichkeit und Charakteristik den Hörer zu einer neuen Form des Mitdenkens und Verstehens heraus. Er sucht nach Begriffen, die die dem Werk einkomponierte Werkidee benennen, eine Idee freilich, die nur als Musik höchste, eben klingende »Bestimmtheit« hat. Aus dem Konflikt zwischen der Bestimmtheit der (musikalischen) Idee und ihrer (sprachlichen) Benennbarkeit, zu der die Musik freilich herausfordert, hat Beethoven schließlich mit seiner neunten Sinfonie die »letzte« Konsequenz gezogen. Er greift zur menschlichen Stimme und damit über die Grenzen der reinen Instrumentalmusik hinaus, tut dies aber in vollkommener Übereinstimmung mit der musikalisch gestalteten Idee, der Idee von der »Menschheit« und ihrer, so Kant, »intelligiblen Einheit«. »Seid umschlungen Millionen!« ist die sprachliche Konkretion einer Idee, deren spezifisch Menschliches durch eben dessen spezifische Eigenschaft zum Ausdruck kommt: durch seine Stimme und Sprache. Nicht eine ästhetische oder entwicklungsgeschichtliche Notwendigkeit der Gattung war es, wie Wagner meinte, die Beethoven über die Grenzen reiner Instrumentalmusik hinausgehen und zum »erlösenden Wort« greifen ließ. Vielmehr war es die - freilich radikale - Konsequenz der besonderen sinfonischen Idee vom Menschen und seiner Sprache, die die Grundlagen des bis dahin gültigen Ideals der reinen Instrumentalmusik erschütterte.
 
Prof. Dr. Wolfram Steinbeck
 
 
Dahlhaus, Carl: Klassische und romantische Musikästhetik. Laaber 1988.
 
Die Musik des 18. Jahrhunderts, herausgegeben von Carl Dahlhaus. Sonderausgabe Laaber 1996.

Universal-Lexikon. 2012.

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